Maria Borrély, „Mistral“

Eine Sache nach der anderen ging ihr durch den Kopf. Es glitt und glitt vorbei, wie kleine Stängel, Halme, Gräser auf dem Wasser, die nach dem Gewitter im Bach treiben.
Die Luft ist ruhig. Aus dem Kornfeld hört man ab und zu, wie aus dem Felsen perlend, den Ruf der Wachtel: Wittwiwitt! Wittwiwitt!

Sie hebt den Blick wieder. Die blaue Wolkenwand ist weggefegt, der Abendhimmel frei, zerteilt von horizontalen goldenen Dunstschwaden.
Das sind schöne, friedliche Wolken.
Diese Ferne zieht sie an, löst sie von der grausamen Welt. Sie spürt die Erschöpfung des Viehs, das über endlose Straßen trottet, ermattet von Staub und Sonne, bereit, umzusinken.
Die liegenden Wolken sprechen ihre eigene Sprache, unhörbar, aber überzeugend: Alles, was aufrecht und prachtvoll ist, die Wand, die der Maurer laut singend errichtet, der Baum, der sich dem Wind entgegenstellt, der stolze Mensch, der kahle Granitschädel des Hügels, alles fällt zu guter Letzt, die Wand, der Fels, der Baum, der Mensch.
Maries Augen weiden sich am Anblick der schönen Wolken, in denen ihre Phantasie strahlende, gefällige Gräber erkennt …
Und die Hügel, quälen sie sich etwa, empören sie sich, die schönen, welligen Hügel, hingegossen in ihren blauen Schleiern, von den Wogen des Himmels getragen?
Zucken sie je mit der Schulter, bewegen das Becken?
Das himmlische Blätterdach wird dunkler, und die flachen Felsbänke, und der blasse Lavendel, der sich tiefblau färbt wie der Lavandin …
Die Sterne sind hinabgestiegen.
Die Grillen zirpen leiser. Das i des etwas schrillen cri … cri … vom Tage verwandelt sich in ein u, den schöneren, ruhigeren Nachtgesang; rrurrurru … rrurrurru … rrurrurru …
(Maria Borrély, „Mistral“)

„Ich stehe vor Ihrem Buch wie vor einem Gemälde, an dem mich jeder einzelne Pinselstrich derart verzaubert, dass mich nicht mehr so sehr kümmert, was es darstellen mag.“ (André Gide an Maria Borrély)

„Ich glaube nicht, dass Maria Borrély die Pariser Literatinnen beneidet. Wie recht sie hat! Wenn man wie sie ein echtes schriftstellerisches Naturell besitzt und das Glück hat, in einer Region von so ausgeprägtem Charakter inmitten von Menschen zu leben, die sich ebenfalls ihre Ursprünglichkeit bewahrt haben, dann kann man gewiss sein, einzigartige, kraftvolle Werke zu schreiben.“ (Claire Géniaux, Journal des Femmes)

„Maria Borrély hat eines der schönsten Gedichte von Liebe und Tod geschrieben, die wir je lesen durften.“ (Lucien Gachon)

„Vieles lässt Borrély in der Schwebe, und Amelie Thoma bewahrt in ihrer Übersetzung ein Feingefühl, das dem poetischen Geheimnis des Textes entspricht.“ (Ulrich Rüdenauer/Tagesspiegel)

Vor ein paar Jahren entdeckte ich durch Zufall in dem eher unaufgeregten provenzalischen Dorf, in dem ich seit langer Zeit Urlaub mache, diesen Roman und seine außergewöhnliche Autorin. Ende der 1920er Jahre geschrieben, überraschte und begeisterte er mich durch seine Intensität und Schönheit, seine zugleich bäuerliche und poetische, archaische und moderne Sprache. Seitdem träumte ich davon, ihn ins Deutsche zu übersetzen. Hier ist er nun, dank dem Kanon Verlag, ein kleines Juwel, aus den Tiefen der Zeit geborgen.

Hier geht es zu „Mistral“ auf der Seite des Kanon Verlags.

Und hier zu Podcast  und Lesung des gesamten Textes auf Bayern Zwei