Maria Borrély, „Das letzte Feuer“
Nach dem nächtlichen Regen sind die Berge so sauber, dass ein wenig Dunst sie beflecken würde, die Welt sieht aus wie neugeboren, rein wie ein Blatt, das sich eben aus der Knospe entfaltet hat.
Unten haben sich die Nebel ausgedünnt. Man sieht durch sie hindurch das neue Dorf.
Das schöne Wetter verstimmt die Pélagie, die im Türrahmen einen Brotkanten und etwas Zwiebel frühstückt, ohne sich auf den nassen, in der Sonne dampfenden Holzstumpf zu setzen. Es ist der Gott weiß wie alte Fuß eines Mandelbaums, in dem einige Spalten klaffen. Von der Rinde ist nichts mehr übrig. Mit seinen verschlungenen, in alle Richtungen verdrehten Wurzeln, die sich rund um den Stamm ausbreiten, seinen harten Astknoten und Stummeln, so schwarz und tot er sein mag, nach all den Frösten und Gluthitzen, die er durchgemacht hat, ist er noch immer hier, um von seiner unbeugsamen Liebe zur Erde zu zeugen.
Nachdem sie die Ziege losgebunden hat, geht sie ins Dorf, um die beiden Kessel und die Ballonflasche umzustellen.
Blaue Wolken hängen über Aix, man sieht die Hügel von Toulon nicht, und der Wind scheint ihr von Süden her zu kommen. Er weht stetig, ohne Böen und Stöße, ein schnell und gleichmäßig strömender Fluss.
»Es wird mehr Regen geben, das ist der Zugwind.«
Die Ziege bleibt stehen, um die Blätter der Weinreben abzufressen, die über den Schwellen der entseelten Häuser hängen. Zwischen den Ruinen beutelt der Wind Brombeerranken und Feigenbäume, zaust die alte Ulme. Es klingt, als wäre das alte Dorf voller Brunnen …
(Maria Borrély, „Das letzte Feuer“)
»Aber in diesem Bericht über die Natur, über bislang kaum literaturfähige Menschen, einfache Bauern, ist doch alles enthalten: die Liebe und der Tod, Beharren und Aufbrechen, das Scheitern und das Immer-Weiter.« (Ulrich Rüdenauer, WDR)
»Existentialismus pur, mit großem Wortgefühl, ganz ohne Brimborium. Rau, archaisch, kräftig und bäuerlich. Wunderbar übersetzt. 134 Seiten, von denen man nicht will, dass sie zu Ende sind. Eine Leuchtfackel aus einer anderen Welt.« (Alf Mayer, CULTurMA)
Wasser und Trockenheit, Flussaue und Hügelrücken, Mensch und Natur, Neues beginnen und Altes bewahren stehen einander in Maria Borrélys zweitem Roman – nicht unversöhnlich – gegenüber. Vielleicht kann man die Autorin als Philosophin bezeichnen, die im schlichten bäuerlichen Alltag mit der Wünschelrute auf die Suche nach dem Sinn des Lebens geht. Die Sprache, in der sie uns davon erzählt, ist zugleich zart und gewaltig, karg und voller Poesie. Einfach wunderschön.
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