Leïla Slimani, „Der Duft der Blumen bei Nacht“

Ich betrete den angrenzenden Raum, in dem große Tafeln ausgestellt sind. Api e petrolio fanno luce (Bienen und Petrolium machen Licht) wurde aus dem Wachs der Kerzen hergestellt, die die Gläubigen in den Kirchen Roms anzünden.

Der Künstler, Alessandro Piangiamore, hat das Wachs eingeschmolzen und anschließend gefärbt und bearbeitet. Das Bild erinnert an einen sommerlichen Gewitterhimmel, unruhig ziehende Wolken, ein Unwetter, das jeden Moment losbrechen kann. Es ist ein Gemisch aus Weiß und Blau mit dunkleren Höhen und lichterfüllten Vertiefungen. Von Weitem sieht es aus wie Farbe, aber sobald man sich nähert, bemerkt man das genarbte und weiche Material der geschmolzenen Kerzen. Wenn ich die Ohren spitze, höre ich dann vielleicht die gemurmelten Gebete? »Mach, dass er gesund wird«, »Mach, dass er mich wieder liebt«, »Herr, schütze meine Kinder«. Wie viele Geheimnisse, wie viele Erinnerungen enthält dieses Votiv-Gemälde? Seine Schönheit tröstet mich. Ich würde gerne mit meinen Nägeln über das Bild kratzen, das Wachs spüren, wie früher als Kind, wenn ich meine Finger in eine brennende Kerze tauchte, um eine Gussform von meinen Fingerabdrücken zu bekommen. Ich würde gerne glauben, ich würde gerne beten. Aber ich weiß nicht, wie das geht.
(Leïla Slimani, „Der Duft der Blumen bei Nacht“)

»Eine leise, durch prägende Momente mäandernde Erkundung ihres Lebens und Schreibens.« (Sabine Rohlf / Berliner Zeitung)

»Solche bewegenden Erkenntnisse machen das Buch zu Slimanis persönlichstem – schon für die poetische Sprache lohnt sich seine Lektüre.« (Der Spiegel)

Folgt man den scheinbar ziellos durch die Dogana ebenso wie durch ihre Erinnerungen schweifenden Gedanken der Autorin, so ergibt sich  das Bild eines verschlungenen Mosaiks aus wiederkehrenden Motiven, die sich durch ihr gesamtes Schreiben ziehen. Doch wer meint, sie nun zu kennen, der sei gewarnt: „Ich will Fragen unbeantwortet lassen, denn in diesen Gräben, in diesen schwarzen Löchern finde ich den Stoff, der mir entspricht. Dort spinne ich mein Netz, erfinde Räume für Freiheit und Lüge, die für mich ein und dasselbe sind.“

Hier geht es zu „Der Duft der Blumen bei Nacht“ auf der Seite des Luchterhand Verlags.