Anne Berest, „Die Postkarte“

An jenem Tag im Juni 1929 sucht Emma nach ihren Töchtern, denn sie will ihnen die Nachricht selbst überbringen. Sie sieht sie in der Ferne, wie zwei kleine Schwebebalken-Turnerinnen laufen sie hintereinander her über das weiße Lehmmäuerchen, das das Wunderwasser des See Genezareth umleitet.

Emma nimmt Myriam und Noémie beiseite, in der Scheune mit den Orangen. Der leuchtende Geruch ihrer Schalen ist so intensiv, dass er sich in den Haaren der Mädchen bis zum Abend hält und noch lange danach im Schlafzimmer in der Luft schwebt.
Emma faltet eines der Orangenpapiere auseinander, mit der Zeichnung eines rotblauen Bootes darauf.
»Seht ihr das Schiff, das unsere Orangen nach Europa transportiert?«, fragt Emma ihre Töchter. »Mit dem werden wir in See stechen! Es wird spannend sein, die Welt zu entdecken.«
Dann nimmt Emma eine der Orangen in die Hand.
»Stellt euch vor, das ist die Weltkugel!«
Vor den Augen ihrer Töchter pult sie kleine Stückchen der Schale ab, um die Kontinente und die Ozeane herauszuarbeiten.
»Seht ihr, hier sind wir. Und … wir werden … dorthin gehen …! Nach Frankreich! Nach Paris!«
Emma nimmt einen Nagel und steckt ihn in das Fruchtfleisch der Orange.
»Schaut, das ist der Eiffelturm!«
Myriam hört ihrer Mutter zu, lauscht aufmerksam auf die neuen Wörter: Paris, Frankreich, der Eiffelturm. Aber sie versteht,
was sich hinter der lebhaften Rede verbirgt.
Wir werden gehen müssen. Wieder weggehen. So ist es nun einmal. Myriam kennt das schon. Sie weiß, wenn man nicht
leiden will, darf man nur weitergehen und sich nie, nie, nie umdrehen.
(Anne Berest, „Die Postkarte“)

„Alle drei, vier Sätze umarmt es einem das Herz, wenn Berest voller Liebe, Witz und Wärme Menschen aufleben lässt, die sich ärgern, sich freuen, die arbeiten, die sich lieben oder auch nicht, die planen und hoffen und bei alldem so tragisch ahnungslos sind, an das gute Ende, an die Vernunft des Menschen glaubend, dass man laut aufschreien möchte.“ (Jüdische Allgemeine)

„Ein so ergreifendes wie elegantes Stück Erinnerungsliteratur.“ (TAZ)

„Dieses Buch macht alles richtig. Es ist ein Krimi, es ist ein Liebesroman, es ist Identitätssuche, auch ein Frauenroman: Die Frauen der Generationen werden wie an einer Perlenkette aufgereiht.“ (3sat „Buchzeit“)

„Anne Berests Buch, das mit einer rätselhaften Postkarte beginnt, ist ein kluger, tragischer, schöner und durch den Humor der Familie Rabinovitch phasenweise unglaublich lustiger Familienroman (…), eine Liebes- und Detektivgeschichte – aber auch einer der beeindruckendsten Romane der letzten Zeit, die vom 20. Jahrhundert handeln, von der Moderne und davon, warum ihre wildesten und optimistischsten Träume im Horror endeten.“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)

Anne Berest gelingt hier das Kunststück, als Detektivin auf den Spuren der rätselhaften Postkarte selbst Protagonistin der Geschichte zu sein und sich zugleich als Erzählerin so sehr zurückzunehmen, dass die Geschehnisse scheinbar ohne ihr Zutun für sich sprechen, die Wucht ihrer Ungeheuerlichkeit ganz von allein entfalten. Ein zutiefst berührendes Buch, das begreiflich macht, wie das Grauen des Holocaust bis heute fortwirkt.

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